René Donzé, 29.8.2021: Aufstand der Unterbezahlten. An der Uni Zürich arbeiten viele Jungforscher mehr als vereinbart. Nun wehren sie sich.
Das Prinzip hat System: Am Wirtschaftsdepartement der Universität Zürich sind über Jahre wissenschaftliche Assistenten mit Teilzeitverträgen angestellt worden, obwohl von ihnen ein Vollzeitpensum erwartet wird. Die Stellen sind zwischen Masterabschluss und Doktorat angesiedelt. Und sie sind begehrt.
Denn gerade in der Ökonomie sind die Nachwuchswissenschafter auf Empfehlungen renommierter Professoren angewiesen, wenn sie später an einer angesehenen Universität doktorieren wollen. «Du bist abhängig von der guten Beurteilung», sagt einer, der dort tätig war.
Drei Betroffene haben dieser Zeitung Auskunft gegeben. Einer arbeitete ein Jahr lang mit einer 60-Prozent-Anstellung. Ein anderer erhielt 70 Prozent zugesprochen – «obwohl meine Professorin nie bestritten hat, dass wir alle eine Vollzeitstelle innehaben». Ein Dritter wurde zu 48 Prozent angestellt. «Die zuständige Sekretärin hat mir nur mündlich die tatsächlichen Arbeitszeiten mitgeteilt, die einem 100-Prozent-Pensum entsprachen.» Er hat noch in der Probezeit gekündigt. «Diese Arbeitsbedingungen wollte ich nicht mittragen.»
Einen richtigen Arbeitsvertrag gab es für die drei nicht, bloss Anstellungsverfügungen. Hochgerechnet auf 100 Prozent wären ihre Löhne bei knapp 6900 Franken pro Monat gelegen, so verdienten sie rund 3300 bis 4800 Franken fürs Vollzeitpensum. Und das ausgerechnet in einem Departement, das sich mit ökonomischen Fragen beschäftigt – wie etwa den Auswirkungen guter Löhne auf die Produktivität. Ein Departement auch, das dank grosszügigen Drittmitteln, etwa von der UBS, gut ausgestattet ist.
Überzeit ist die Regel
Die Geschichte der drei Wirtschaftswissenschafter steht für eine Praxis, die dem sogenannten Mittelbau zwischen Studium und Professur an vielen Schweizer Hochschulen zu schaffen macht: Nach abgeschlossenem Masterstudium stehen Tausende Schlange für eine Stelle an einer Universität, dazu kommen viele Bewerbungen aus dem Ausland. Wer ein Doktorat machen will, muss gut sein und unten durch. Und auch danach lassen sich viele auf prekäre Arbeitsverhältnisse ein, in der Hoffnung auf eine Karriere.
Das bestätigt Sandra Ceresa, Regionalsekretärin Zürich der Gewerkschaft VPOD. Das Problem sei, dass es bei diesen Angestellten keine Zeiterfassung gebe. «Die Betroffenen haben nichts in der Hand.» Der VPOD hat gerade eben eine Umfrage an der Universität Zürich durchgeführt, an der 1600 Mitarbeitende teilgenommen haben, also etwa ein Drittel des Mittelbaus. Nun liegen die Resultate vor. «Deutlich mehr als die Hälfte der Antwortenden arbeitet regelmässig mehr, als vertraglich vereinbart worden ist. Etwa die Hälfte davon leistet regelmässig mehr als zehn Überstunden pro Woche», sagt Ceresa. Die genauen Zahlen werden demnächst veröffentlicht.
Bei der Uni Zürich sind die Umfrageergebnisse noch nicht eingetroffen. Mediensprecher Beat Müller sagt: «Löhne wie auch Beschäftigungsgrade des Personals mit wissenschaftlichen Funktionen an der Universität Zürich entsprechen denjenigen der anderen schweizerischen Universitäten.» Er verweist darauf, dass es sich oft um sogenannte Qualifikationsstellen handle. «Diese zeichnen sich dadurch aus, dass ein wesentlicher Teil eines Vollzeitpensums der eigenen Weiterqualifikation dient.»
Mit diesem Argument wehrt sich die Universität auch gegen die Vorwürfe der drei ehemaligen Mitarbeiter am Wirtschaftsdepartement. Die wissenschaftlichen Assistenten könnten auch Doktorandenkurse besuchen, an Forschungsseminaren teilnehmen, eigene Forschungsideen entwickeln. Darum werde kein volles Salär bezahlt.
Schweigegeld oder Bonus?
Von solchen Privilegien haben die Betroffenen indes nichts gespürt. «Wenn ich Kurse besuchen oder eigene Forschung betreiben wollte, musste ich das neben meinem Vollzeitpensum tun», sagt der eine. Der andere: «Ich musste für meinen Kurs praktisch die ganzen Ferien hergeben.» Einer fordert nun, dass ihm der Lohn für geleistete Mehrarbeit nachbezahlt wird. Der andere sieht davon ab, weil er seine Karriere nicht gefährden will. Der Dritte, der in der Probezeit aufgab, verliess den akademischen Betrieb.
Für Nachzahlungen sieht die Uni keinen Anlass. Doch sie hat reagiert. Für eine Gruppe Betroffener, die sich gegen die Anstellungsbedingungen gewehrt hatte, gab es je 5000 Franken. Einer hat abgelehnt – und spricht von Schweigegeld. Die Uni sagt, es sei ein Bonus für die Mithilfe bei der Entwicklung eines neuen Predoc-Programms. Tatsächlich werden die Assistenten am Wirtschaftsdepartement jetzt Predocs genannt. Und es werden alle neu mit einem einheitlichen Vertrag ausgestattet, der 70 Prozent Arbeit und 30 Prozent Weiterbildung vorsieht. Man habe «diese Bedingungen auch intern klar kommuniziert» und werde sie «entschlossen durchsetzen», so der Mediensprecher.
Unter dem Strich bleibt es für diese Predocs bei einem Teilzeitlohn trotz Vollzeit-Verpflichtung. Und damit bei dem Problem, das viele andere wissenschaftliche Angestellte an Schweizer Universitäten auch haben. Viele von ihnen haben trotz tiefem Lohn weder Zeit für einen Zusatzverdienst noch für die Gründung einer Familie, sagt eine Mittelbau-Vertreterin. Und das als Erwachsene mit abgeschlossenem Studium. Mit einer Petition an die Bundesversammlung fordern Mittelbauverbände und Gewerkschaften nun bessere Forschungs-, Lehr- und Arbeitsbedingungen. «Das jetzige System ist verheerend», sagt Sandra Ceresa vom VPOD. «Und es hindert viele, vor allem Frauen, an einer akademischen Karriere.»
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